Die „große Flucht“ 2015

Erinnerungen des ehemaligen Bürgermeisters an den Herbst 2015

Von Michael Hudelist

Salzburg. Der ehemalige Langzeitbürgermeister Heinz Schaden hat in einem Buch die Fluchtbewegung im Herbst 2015 in einer Art Reportage sehr umfassend und mit vielen bisher wenig bekannten Details zusammengefasst. Neben zahlreichen Fotos, auch von der Saalbrücke zwischen Salzburg und Freilassing, interviewt Schaden auch Entscheidungsträger und Helfer von damals, darunter den Berufsfotografen Mike Vogl, der zusammen mit Karl Müller aus Fridolfing die vielen freiwilligen Helfer an der Saalbrücke und später auch im Camp Asfinag koordiniert hat. Er beschreibt aber auch die politischen Folgen der 1,3 Millionen Flüchtlinge  in den Jahren 2015 und 2016, die Ängste auch bei liberalen Freunden von ihm ausgelöst hätten, „ein einstiger Weggefährte aus der Gewerkschaft formulierte mir gegenüber im Herbst 2015 dass man auf die Flüchtlinge an der Grenze schießen sollte“.

Flüchtlingshelfer Karl Heinz Müller aus Fridolfing erfand zusammen mit Mike Vogl das Bändersystem, an der Grenze und später im Camp Asfinag kümmerte er sich speziell um Familien mit Kindern. Auch wenn er der Zuwanderung immer kritisch gegenüberstand war sein Ziel doch, den schutzsuchenden Menschen so gut es geht zu helfen. – 26. Sept. 2015

Von den ersten ankommenden Zügen am Hauptbahnhof mit Flüchtlingen aus Ungarn über das Schließen der Grenze zu Bayern, von der drohenden Überfüllung der Tiefgarage am Südtiroler Platz mit fast 1000 Menschen bis zum Marsch in Richtung Freilassing lässt Schaden in seinem Buch alle Stationen ausführlich Revue passieren. Persönliche Kommentare und Empfindungen von  Schaden findet man selten, das Buch ist vielmehr eine Dokumentation der Ereignisse, eine Auflistung der damals wichtigsten Presseaussendungen der Stadt, also de facto von Schaden, angereichert mit offiziellen Agenturmelden, Interviews und vielen Fotos, unter anderem von Mike Vogl. Dieser hatte zusammen mit dem Fridolfinger Karl Müller vom ersten Augenblick an Hilfe für Flüchtlinge an der Saalbrücke organisiert, ebenso wie viele Ehrenamtliche aus Freilassing. Die Deutsche Bundespolizei hatte die Grenze für Migranten  geschlossen, hunderte, bald tausende Männer, Frauen und Kinder „stauten“ sich auf Salzburger Seite auf dem Gelände des ehemaligen Zollamtes. „Mütter mit ihren Kindern saßen bei Wind und Wetter auf der Brücke und wollten ihren Platz nicht mehr verlassen, jüngere, stärkere Flüchtlinge versuchten sich vorzudrängen“, erinnerte sich Karl Müller später. Im Buch von Heinz Schaden kommt er nicht zu Wort, dafür erzählt Mike Vogl, wie er zusammen mit Müller das „Bebänderungs-System“ erfunden hat. Die Frage, wer hat’s erfunden, beantwortet Vogl in dem Buch so: „Die Idee war eine Zusammenarbeit von Karl Müller und mir. Die ersten Armbänder waren von der Jungen Volkspartei, von irgendwelchen Festen, die die gemacht haben, da war noch JVP aufgedruckt“. Vom Start mit den Armbändern an hätten die Flüchtlinge gewusst, dass sie nach einer gewissen Wartezeit geordnet nach Deutschland weiterreisen können, „die große Unsicherheit sei weg gewesen, der Druck war größtenteils draußen“, erinnert sich Vogl in einem Interview mit Schaden.

Salzburgs Bürgermeister Heinz Schaden mit der damaligen Innenministerin Johanna Mikl-Leiter, rechts Fotograf Mike Vogl, der Tage später das umfassendste Freiwilligen-System aufbaute und wochenlang koordinierte. – 16. Okt. 2015

Das System der Bebänderung sorgte dafür, dass, wie zwischen Deutschland und Österreich vereinbart, stündlich 50 Migranten einreisen durften, das heißt meist von Müller im Tross über die Brücke, später über das Kraftwerk Rott zur Deutschen Bundespolizei auf der anderen Seite der Saalach geführt wurden. Schaden beschreibt ausführlich den „Masterplan Auslass/Brücke Grenze Freilassing“ und die Kleiderausgabe und weist ausdrücklich darauf hin, dass dieses System ausschließlich von Freiwilligen erdacht und 24 Stunden am Tag betreut wurde. Erst einige Tage nach dem Eintreffen der ersten Flüchtlinge an der Grenze und einer Art wildem Camp mit Zelten vor der Brücke hatten sich Stadt und Land „dazu geschalten“, so schreibt es Schaden in seinem Buch, „um am Hotspot Grenze geordnete Strukturen zu schaffen“, gemeint waren Reinigung und Müllabfuhr, Einzäunung, sowie das Aufstellen von Dusch- und WC-Containern.

Erste Kritik auch aus Freilassing

Während sich hunderte Helfer aus Salzburg und Bayern um die Flüchtlinge an der Saalbrücke, am Hauptbahnhof und anderen Notunterkünften kümmerten wurde sowohl in Salzburg, als auch in Freilassing „erkennbar politisch Stimmung gemacht und demonstriert“, schreibt Schaden in seinem Buch. Der ehemalige Bürgermeister zitiert eine Mail vom Wirtschaftsforum Freilassing: „Seit fünf Wochen wird die kleine Grenzstadt Freilassing von täglich bis zu 1500 Flüchtlingen überrollt, die Grenzkontrollen am Grenzübergang Freilassing haben massive Auswirkungen auf unser tägliches Leben in Freilassing und den Einzelhandel in der Region“. Tatsächlich war von den Flüchtlingen im Freilassinger Alltag nichts zu sehen, außer am Bahnhof und in der Notunterkunft in der Sägewerkstraße, wo sie rund 24 Stunden auf die Weiterreise in das Bundesgebiet warten mussten. Die damalige Österreichische Innenministerin Johanna Mikl-Leiter meinte bei einem Besuch im Oktober 2015 in Salzburg, dass „die Ausnahmesituation noch Monate, wenn nicht Jahre dauert wenn es uns nicht gelingt, die Migrationsströme zu dämpfen“.

„Salzburg geht über“

Im Oktober 2015 entstand dann das Camp Asfinag auf dem Gelände der ehemaligen Autobahnmeisterei. Erst wurden die Flüchtlinge in den alten Lkw-Hallen untergebracht, später in großen Bierzelten. Dort warteten zeitweise über 1000 Schutzsuchende auf die Weiterreise, Deutschland hatte sich mit Österreich auf eine „Übernahme“ von 50 Personen pro Stunde an fünf Grenzübergängen geeinigt, einer davon war die Saalbrücke. Schaden schildert auch das Problem, dass aus Wien mit Sonderzügen „weiterhin massiv Flüchtlinge nach Salzburg verlegt werden“, obwohl hier die Weiterreise stark gedrosselt war, Salzburg sei zum Flaschenhals geworden. Das Rote Kreuz meldete im Krisenstab, dass die Menschen aufgrund der fortgeschrittenen Jahreszeit und der oftmals viel länger dauernden Flucht „kränker und schwächer“ in Salzburg ankommen.

Lage eskaliert

Am 5. November 2015 schreibt die Stadt in einer Pressemitteilung: „Die Flüchtlingssituation in der Stadt Salzburg eskaliert“, über 2000 Personen seien im Camp Asfinag, 600 in der Halle am Hauptbahnhof und 600 an der Saalbrücke, „zusätzlich sind 1500 Personen vom Innenministerium via Bussen von Spielfeld kommend angekündigt“. Erst nach einer massiven Intervention von Schaden sei es gelungen, den Zustrom großteils umzuleiten. Offizielle Dokumente von Schaden als Bürgermeister sind im Stadtarchiv 30 Jahre lang unter Verschluss und durften für das Buch nicht verwendet werden, private Notizen hingegen schon, zum Beispiel von einem Telefonat mit dem damaligen Verteidigungsminister Gerald Klug: „Die Stadt hätte Interesse an unterfesten UNHCR Zelten für das Asfinag Gelände. Ersatz zweier baufälliger Hallen, allenfalls Ersatz Bierzelte“.

Immer mehr wollen in Österreich bleiben

Schaden beschreibt in seinem Reportagebuch ein weiteres Problem, dass sich ab Mitte November 2015 abzeichnete: Immer mehr Flüchtlinge mit dem ursprünglichen Reiseziel Deutschland oder darüber hinaus wollen nun in Österreich bleiben, „das Transit System nach Deutschland gerät ins Wanken“ schreibt die Stadt Salzburg und damit auch der Bürgermeister, von 1150 Feldbetten im Camp Asfinag seien bereits 458 von Asylbewerbern besetzt, die also eigentlich nicht mehr in ein Transitlager gehören würden. Es sind vor allem Syrer, Afghanen und Pakistani, die um Asyl in Österreich ansuchen, auch weil sie von Deutschland zum Teil nicht mehr genommen werden. Schaden entscheidet am 19. November 2015, dass Asylbewerber das Transit-Camp Asfinag verlassen müssen, 130 kommen in einem Bürogebäude am Rande des Lagers unter.

Im Jänner ging die Zahl der Transitflüchtlinge dann zurück, „am 25. Jänner 2016 befanden sich am Asfinag-Gelände fünf Transitflüchtlinge und 63 Asylbewerber“, also Schutzsuchende die in Österreich bleiben wollen. Am 14. März 2016 wurde das Asfinag-Camp in eine Art Stand by heruntergefahren, Voraussetzung war allerdings, dass es binnen 48 Stunden wieder hochgefahren werden könne.

In seiner Reportage „Die große Flucht“ 2015 dokumentiert der damalige Bürgermeister Heinz Schaden auch ausführlich die Ereignisse an der Saalbrücke zwischen Salzburg und Freilassing. (Foto: Stadt Salzburg)

Folgen der Krise

Heinz Schaden geht in seinem Buch aber auch auf die Zeit vor dem Herbst 2015 ein, Salzburg hätte schon vor 2015 einen Ausländeranteil von rund 25 Prozent gehabt, „statistisch erkennbar vor allem in den Stadtteilen Lehen, Elisabeth-Vorstadt und Schallmoos“, den höchsten Prozentsatz würden allerdings bis heute deutsche Staatsbürger stellen, gefolgt von Migranten aus dem ehemaligen Jugoslawien, der Türkei und anderen, osteuropäischen Ländern.

Am Ende des über 200 Seiten starken Buches geht Schaden auf die Folgen der Flüchtlingskrise ein, die nach Meinung vieler Beobachter aber vielmehr eine Staatskrise war. „Am Höhepunkt der Flüchtlingsbewegung im Jahr 2015 erzählten mir viele Bewohner in der Stadt Salzburg, dass sie Angst hätten“. Die Stadt hätte zwar darauf geachtet, „dass möglichst niemand die Krise unmittelbar wahrnehmen sollte, aber die Medien brachten die Flüchtlinge in jedes Wohnzimmer“. Die Angst speiste sich nach Ansicht Schadens aus den Bildern des Flüchtlingsstroms, vor allem aus Spielfeld. „Ich spürte diese Angst im Herbst 2015 sogar bei sehr aufgeklärten und liberalen Freunden von mir in Salzburg. Ein einstiger Weggefährte aus der Gewerkschaft formulierte mir gegenüber im Herbst 2015 dass man auf die Flüchtlinge an der Grenze schießen sollte“. Die große Flucht hätte am Ende innenpolitische Folgen auf dem gesamten Kontinent gehabt, die Einreise von 1,3 Millionen Zuwanderern 2015 und 2016 hätte zu einem Rechtsruck im politischen System geführt, nicht nur in Österreich, sondern auch in Deutschland, Griechenland, England, Italien und anderen europäischen Ländern.

Schaden will die Ereignisse der „großen Flucht“ aus seiner heutigen Sicht darstellen, „zudem ist es mir wichtig zu zeigen, dass unsere Gesellschaft im Ernstfall durchaus in der Lage ist, auf eine menschliche Notsituation angemessen zu reagieren“. Der Glaube daran sei allerdings nach 2015 abhanden gekommen. „Flucht und Migration werden nur mehr als Bedrohung wahrgenommen, die Politik wetteifert um die härtesten Gegenmaßnahmen“. Dabei hätte Österreich gerade in der jüngeren Geschichte schon mehrfach bewiesen, damit gut umgehen zu können.

Heinz Schaden, Die „große Flucht“ 2015. Eine Reportage (Salzburger Beiträge zur Migrationsgeschichte 2, Schriftenreihe des Archivs der Stadt Salzburg 61), Salzburg 2021, 224 Seiten mit 143 Farbabbildungen und 4 Grafiken, ISBN 978-3-900213-52-7. Preis: € 24,20; erhältlich im Stadtarchiv und im guten Buchhandel.

[Salzburg] Eigenrecherche, Rezession

07.12.2021/11 Uhr